Zum Inhalt springen

Lugano Paradiso

ODER SO SCHÖN WIE DIESES JAHR HAT DER FLIEDER LANGE NICHT GEBLÜHT

.
Theater St.Gallen | Uraufführung von Andreas Sauter

 

© Fotos drama-berlin.de / Iko Freese

Die Premiere war am Donnerstag, 22. März 2018 am Theater St. Gallen in der Lokremise.

Team
Inszenierung: Jonas Knecht
Bühne: Markus Karner
Kostüm: Heidi Walter
Komposition / Live-Musik: Andi Peter, Nico Feer
Choreographie: Sergiu Matis
Dramaturgie: Anja Horst

Spiel
Birgit Bücker:
Ilka Baer, ehemaliges P26 Mitglied
Hans Ruedi Spühler: Peter Müller, Journalist, ehemals „revolutionärer“ Linker
Bruno Riedl: Ottokar Hermann, Geschäftsmann
Diana Dengler: Journalistin, Befragerin im Ausschuss des Deutschen Bundestages
Anja Tobler: Journalistin, Befragerin im Ausschuss des Deutschen Bundestages
Fabian Müller: Staaatsschützer-Ausbildner, Onkel von Ilka Baers Mann, P26 Ausbildner, Mitglied in der Atomkommission, Anwalt Dubois, Oberleutnant Lorenz
Jessica Cuna: Staatsschützerin der Schweizer Bundespolizei, Betroffene des DDR-Regimes
Stefanie Fischer, Swane Küpper, Emily Pak, Giulio Panzi: Staatsschützer in Ausbildung, P26er in Ausbildung, Mitglieder der Atomkommission, Stasi-Spitzel, Betroffene des DDR-Regimes


Das Projekt

Die Fichen-Affäre Ende der 1980er Jahre und die Aufdeckung der P26 haben gezeigt, dass Spionage und Überwachung im Kalten Krieg alltäglich waren, auch in der Schweiz. Als aber bekannt wurde, in welchem Umfang Menschen vom Staat überwacht worden waren, führte das zu großer Verunsicherung in der Bevölkerung.
Ein fesselndes Themenfeld für Schauspieldirektor Jonas Knecht und den Schweizer Dramatiker und Hörspielmacher Andreas Sauter, der bereits in der letzten Spielzeit mit Knecht das Autorentheaterprojekt Das Schweigen der Schweiz entwickelte und dafür ein Kurzdrama schrieb. Jonas Knecht, der mit seiner Arbeit in St.Gallen sowohl das Autorentheater als auch die Auseinandersetzung mit Schweizer Themen fördert, erteilt einen Stückauftrag.
Andreas Sauter beginnt mit einer umfangreichen Recherche, in der sich zeigt, dass die Zeit des Kalten Krieges ein kaum aufgearbeitetes Kapitel Schweizer Geschichte ist. Vieles bleibt im Verborgenen, nicht zuletzt die kürzlich verschwundenen Akten der P26. Der Arbeitstitel des Stückes lautet „Im Eis“. „Dinge verschwinden nicht“, schreibt Andreas Sauter über sein Stück. „Egal ob sie unter den Teppich gekehrt oder offen gelebt worden sind. Wir sind Teil dieser Welt, und sie ist Teil von uns. Vielleicht kommen die Dinge irgendwann aus dem Schatten, vielleicht bleiben sie für immer verborgen, aber selbst dann sind sie da. Prägen uns, machen uns aus. Das macht diesen Stoff so aktuell. Mit jedem Fenster, das ich im Verlauf der Arbeit geöffnet, jedem Stein, den ich umgedreht habe, jeder Geschichte, der ich nachgegangen bin – ich bin in der Gegenwart gelandet.“

Ungewöhnliche Kooperation dreier Kulturinstitutionen
Zeitgleich mit dem Beginn der Recherchearbeit zu „Im Eis“ (Ende 2016) führt Jonas Knecht Gespräche mit dem Direktor des St.Galler Kunstmuseums, Roland Wäspe. Man denkt über eine mögliche Zusammenarbeit nach, in die auch das Kinok, Cinema in der Lokremise miteinbezogen werden könnte. Wäspe macht Jonas Knecht auf die Künstlerin Bettina Pousttchi aufmerksam, die dieser kurz darauf in Berlin kennenlernt.
Pousttchi hat sich in ihrem international wahrgenommenen Schaffen häufig mit der Verbindung von Systemen der Zeit und des Raums beschäftigt, die sie in eindrücklichen Videoarbeiten und skulpturalen Setzungen seit den 1990er Jahren realisiert. Ihre grossformatigen Installationen sind perfekt auf eine Ausstellung in der Kunstzone der Lokremise zugeschnitten. Vor allem in ihrer Auseinandersetzung mit soziologischen Fragen im Zusammenhang mit dem Aufbau und der Zerstörung von Schutz, sieht Jonas Knecht eine bestechende Nähe zum geplanten Stück. Aus der vagen Idee einer Zusammenarbeit entwickelt sich ein konkretes Projekt, dem sich auch das Kinok anschliesst.
Vom 17. Februar bis zum 17. Juni 2018 wird die Ausstellung Protection von Bettina Pousttchi in der Kunstzone der Lokremise zu sehen sein. Dort spielt auch der zweite Teil des Theaterstücks Lugano Paradiso, das am 22. März Premiere feiert. Begleitend zur Ausstellung und zur Inszenierung zeigt das Kinok eine Filmreihe zum Thema Überwachung. Geplant sind unter anderem Klassiker wie The Conversation, das mit dem Oscar ausgezeichnete deutsche Stasi-Drama Das Leben der Anderen oder auch das britische Drama Red Road von Andrea Arnold.

Aus „Im Eis“ wird Lugano Paradiso
Gewappnet mit dem Zivilverteidigungsbuch machen sich die Eidgenossen bereit zur Landesverteidigung. Eine Geheimorganisation zur Stärkung des Widerstandswillens, P26, wird gegründet. Der Staat bespitzelt und fichiert mehr als 800’000 Menschen. Alle, die sich nicht im bürgerlichen oder rechtsbürgerlichen Mainstream bewegen, machen sich verdächtig. Die geistige Landesverteidigung mündet in einem skurrilen Sicherheitsdenken. Doch es finden sich Löcher im Eisernen Vorhang. Die neutrale Schweiz, die das Handelsembargo der Westmächte gegen den Ostblock nicht offiziell stützt, wird zum Umschlagplatz aller erdenklichen Embargogüter. Dubiose Geschäftsleute lassen sich nieder, gründen Briefkastenfirmen. Ein geheimer, undurchschaubarer Wirtschaftsapparat, der Gewinne in Millionenhöhe einstreicht und auf Schweizer Konten verschwinden lässt. Geduldet von Schweizer Behörden, gelenkt vom Ministerium für Staatssicherheit der DDR.
Das Personal in Lugano Paradiso ist gross, die Dramaturgie bestechend: Scheinbar nebeneinander agierend, stossen die Figuren immer wieder aufeinander: Staatsschützer, Journalisten, Widerstandskämpfer der P26, Befrager, Anwälte, skrupellose Geschäftemacher, Opfer. Jeder beobachtet jeden. Jeder ist verdächtig. Eine Stimmung von Angst, Misstrauen und bedingungslosem Widerstandswillen breitet sich aus. Dadurch, dass Sauter die Begegnung der Figuren zum Teil auf verschiedenen Zeitebenen stattfinden lässt, entsteht eine flirrende, mal erschreckende, mal absurde Atmosphäre, die sich zunehmend verdichtet und eine anhaltende, ständig korrespondierende Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellt. „Dinge verschwinden nicht“, wie Andreas Sauter schreibt. Es entsteht ein Sog, der den Zuschauer aus der Haltung des unbeteiligten Betrachters reisst und ihn mitten in die Wirren dieser brisanten Zeit katapultiert.
Lugano Paradiso basiert auf Interviews mit Zeitzeugen aus St.Gallen, auf Stasi-Akten, Akten aus dem Schweizer Bundesarchiv, Filmausschnitten des Schweizer Fernsehens, sowie einer Befragung aus dem Bundestag. Dokumentarisch genau beschreibt Sauter die atomare Bedrohung, das Wettrüsten, das antikommunistisch aufgeladene Klima in der Schweiz, die sich zum Überwachungsstaat entwickelt, sich als Bollwerk gegen kommunistische Unterwanderung versteht und zur gleichen Zeit das DDR- Regime durch ihre Passivität und Duldung der Umgehungsgeschäfte jahrzehntelang stützt und sich bereichert. Lugano Paradiso ist eine rasante Reise durch die jüngste Geschichte, die nicht mit dem Kalten Krieg endet, sondern bis ins Heute führt und drängende Fragen auf unsere Zukunft wirft. Die Bedrohungslage hat sich verschoben: Heute bekämpfen wir den Terrorismus, verschärfen Gesetze, nehmen die Überwachung der Telekommunikation und des öffentlichen Raumes in Kauf. Datenspeicherung ist im digitalen Zeitalter alltäglich geworden, der gläserne Mensch nahezu Realität.

Eine Herausforderung in der Umsetzung
Das dichte, überbordende Theaterstück von Andreas Sauter, das sich in drei Teile gliedert, stellt hohe Anforderungen an den Regisseur Jonas Knecht.
Die Zusammenarbeit mit den Kulturpartnern der Lokremise spielt dabei eine zentrale Rolle: Bespielt werden neben dem Theatersaal auch die Kunstzone und das Kinok in unterschiedlichsten Formen.
Jeder Spielort hat ein extrem eigenes Charakteristikum und zwingen das Team um Knecht, die theatralen Ausdrucksmittel zu hinterfragen, und nach jeweils anderen Spielformen und Erzählweisen zu suchen.
So werden an der Umsetzung nicht nur Schauspieler, sondern auch Tänzer und Musiker beteiligt sein.
Ein ungewöhnlicher Theaterabend – gespielt in drei verschiedenen Räumen der Lokremise – wird entstehen, bei dem Tanz, Schauspiel, Hörspiel und Film ineinandergreifen und die Zuschauerinnen und Zuschauer in jedem Raum auf’s Neue herausfordern werden.


 

Trailer


Presse

Harald Müller im Theater der Zeit (Heft Mai 2018) schrieb:
[…] Es gibt sie noch, die Versuche, allen Ich-Beteuerungen zum Trotz größere (Macht-) Dimensionen auf dem Theater zu etablieren, Konflikte statt Problemchen zu benennen und diese als wirkungsvolle Vorgaben für relevantes Theater zu entdecken. Dieser Tage zu besichtigen in St. Gallen, der Hauptstadt der Ostschweiz, in dessen Theater der junge Schauspieldirektor Jonas Knecht seit 2016 ein avanciertes Gegenwartstheater anbietet, welches jenseits von Alarmismus und Aufgesetztheit den grundsätzlichen Konfliktfeldern in der Schweiz und der Welt nachspürt – mit Wirkungen in der Stadtgesellschaft, namentlich der jungen Generation, und Erfolg. Gerade wurde Knechts Vertrag um weitere drei Jahre verlängert. […]

Daniele Muscionico meinte in der NZZ vom 29.03.2018:
[…] Wenn Kunst eine Wahrheit hat, ist sie zumutbar. Die Wahrheit der Politik ist es schliesslich auch. Man kann, was unter Jonas Knecht am Theater St. Gallen geschieht, auch Menschenliebe nennen. Denn man soll guten Willens davon ausgehen: Knecht glaubt an die aufklärerische Funktion von Theater und die Lernbereitschaft seines Publikums.
Man kann aber auch anders – und hier einem Theater vorhalten, dass es sich mit dem Ausmisten eines schweizerischen Augiasstalls so viel an Stoff vornimmt, wie in einem Studiensemester kaum zu bewältigen wäre. Zudem, auch Knecht arbeitet verdeckt, an einer St. Galler Dramaturgie nämlich. Das darf er nicht – er muss. Andreas Sauters Uraufführung schreibt die Reihe Gegenwartsstoffe weiter, die in St. Gallen in Auftrag gegeben werden und den Kanon eines jungen politischen Schweizer Theaterschaffens etablieren. Wer von einer Bühne Relevanz will, schafft sich wie hier einen Hallraum, in dem ein Publikum vielleicht nicht immer alles, aber immer mehr von seiner Zeit versteht. […]